Auf den Spuren seines Lebens & Werkes
Gion Antoni Derungs-Dicht, 1935-2012
Text Arnold Spescha, Romanist
Aus gutem Holz geschnitztGion Antoni Derungs wurde am 6. September 1935 in Vella geboren. Sein Vater Wolfgang, Sekundarlehrer und Organist, starb als Gion Antoni kaum zwei Jahre alt war. Seine Mutter Heinrica, eine Schwester des Komponisten Duri Sialm, blieb zurück mit ihm und seiner Schwester Maria Margrita. Gion Antoni besuchte das Gymnasium in Disentis und studierte Musik in Zürich. Von 1960–62 war er als Musiker in Lichtensteig im Toggenburg tätig, wo er seine Frau, Susi Dicht, kennenlernte. Sie zogen dann nach Chur, wo er von 1962–1999 am Lehrerseminar unterrichtete. |
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Ein vielfältiger MusikerGion Antoni Derungs war Lehrer, Pianist und Organist, Dirigent und Komponist – mit Engagement, Perfektion und Freude. Mit dem Feuer des Enthusiasmus konnte er anregen, dieser Mann mit seiner feinen Art, dieser tiefgründige und weise Mensch, humorvoll und grossherzig. Er war ein Meister an der Orgel, die er während 40 Jahren in der Churer Kathedrale und in anderen Kirchen spielte. Er leitete die romanischen Chöre von Chur «Rezia» und «Alpina» und gründete und leitete während vielen Jahren das «Quartet Grischun», das sich vor allem dem zeitgenössischen Gesang widmete. Doch seine grosse Leidenschaft war das Komponieren. |
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«Mit dem Feuer des Enthusiasmus konnte er anregen,
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Ein Komponist aus BerufungVielleicht war der frühe Tod seines Vaters der Grund, warum er so viele Werke schuf, verschiedene mit dem Thema des Todes, warum er unaufhörlich arbeitete, mit eiserner Disziplin, unabhängig und mit einer beeindruckenden ästhetischen Konsequenz. Er suchte nicht den schnellen Erfolg. Auch er hatte Vorbilder, doch er suchte und fand seinen Stil, seine eigene musikalische Sprache. Er ging den Weg desjenigen, der die Individualität und die Qualität ins Zentrum stellt. Sein Werk, das über 400 Kompositionen und beinahe alle Gattungen der Musik umfasst, reicht vom «einfachen» Lied bis zur Sinfonie und zur Oper. |
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Das romanische Volkslied und der KirchengesangDas romanische Volkslied hat Gion Antoni Derungs stark inspiriert und beeinflusst, das weltliche wie das religiöse. Vom reichen kulturellen und religiösen Leben in Vella erhielt er die ersten Impulse. Er instrumentierte Volkslieder, verarbeitete Melodien, Motive und Themen und schuf mit diesem wertvollen Material neue Werke. Einige seiner besten Kompositionen wurden vom Kirchengesang inspiriert, vom gregorianischen Gesang und von den geistlichen Liedern aus dem Kirchen- und Hausgesangbuch «Consolaziun dell’olma devoziusa» (Trost der frommen Seele). Dies ist ein weiteres Beispiel seiner Wurzeln, die ein vielfältiges und qualitativ hochstehendes Werk entstehen liessen, das seinen Namen weit über Graubünden und die Schweiz hinaus getragen hat, und wofür er zahlreiche Ehrungen erhalten durfte. |
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Opern und SinfonienGion Antoni Derungs hatte die Fähigkeit und die Ausdauer, Werke von grosser Dimension zu schaffen. Mit dem «Cerchel magic», nach dem Libretto von Lothar Deplazes, schuf er die erste romanische Oper. Weitere folgten, drei davon im Rahmen des Kulturfestivals «Origen» von Giovanni Netzer. Gion Antoni Derungs hatte eine grosse Vorliebe für die Dramatik, für die Kombination von Wort, Musik und Inszenierung. Seine sechs Opern sind auch von grosser Bedeutung für die Identität der Rätoromanen. Nicht zu vergessen ist das Werk «Henry Dunant – ein dramatisches Menschenleben», mit dem Text von alt Bundesrat Hans-Rudolf Merz. Der Dirigent Mario Schwarz, der viele Werke von Derungs interpretiert hat, führte dieses Melodrama in Heiden, Genf, Sarajevo und Moskau auf. |
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Musik mit Atmosphäre, Esprit und PlastizitätWas mich am meisten fasziniert, ist die Atmosphäre, die seine Werke ausstrahlen. Ich denke zum Beispiel an die Musik zum Opernballett «Sontga Margriata», die für mich einen empfindsamen und sinnlichen Charakter hat, eine Musik, die Atmosphäre schafft und den besonderen Zauber dieser Sage heraufbeschwört. Derungs instrumentierte mit dem Pinsel des Kunstmalers. Er war ein Meister der Instru-mentierung. Seine Musik enthält auch viel Esprit, sagt der Diri-gent Simon Camartin, der zahlreiche Werke von Derungs aufführte, im Rahmen des Musikfestivals «Menhir» und in vielen Konzerten weltweit. Die grössten Kompositionen, vor allem die Sinfo-nien, sind von ausserordentlicher Plastizität. Teile mit lyrisch-filigranem Charakter wechseln sich ab mit kraftvollen Passagen. Gion Antoni Derungs war ein Meister der Klangfarbe, der Bilder, der Verarbeitung von Motiven und Themen, des Verwebens, Verdichtens und Verstärkens. In seine zehn Sinfonien legte er sein ganzes Sein, sein Fühlen und Denken. |
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Sein musikalisches TestamentDie Sinfonie Nr. 8, die im Jahre 2010 zu seinem 75. Geburtstag unter der Leitung von Simon Camartin in der Martinskirche in Chur uraufgeführt wurde, trägt den Titel «Sein – Vergehen». Der Komponist bezeichnete den ersten Teil mit «angusto» und schreibt: «Jeder Mensch muss einmal Abschied nehmen. Und wir alle sind uns dessen bewusst. Manchmal ergreift mich ein beklemmendes Gefühl, ja beinahe eine tiefe Angst vor diesem Übergang, vor diesem Weggehen.» Im zweiten Teil, «mistico», mit Motiven aus der «Canzun da Sontga Margriata», beschreibt der Komponist die geheimnisvollen mystischen Kräfte, die in allem Sein enthalten sind. Im dritten Teil, «festivo», flechtet er Motive des Te Deum ein, «Tei nies ver Diu», und schafft ein erhabenes Grandioso. Mit seinen Worten: «Es ist ein grosses Ritual, ein Gotteslob und Dank dafür, dass auch ich diesem Kreis ‹Sein und Vergehen› angehöre.» |
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